Jüdische Spuren in Dülmen.

 „Provenienzforschung“ ist heute zu einem regelrechten Schlagwort geworden, wenn von „Raubkunst“ oder „Beutekunst“ die Rede ist. „Mit den sogenannten ‚Washingtoner Prinzipien‘ wurde 1998 erstmals eine internationale Vereinbarung formuliert, die Maßgaben zur Suche und Identifizierung von Kulturgütern definierte, die vor allem jüdischen Opfern des Nationalsozialismus abgepresst und geraubt worden waren“, so lesen wir (im November 2021) auf der Webseite des Jüdischen Museums in Dorsten. „Seither rückt die Prüfung von Provenienzen – die Herkunft von musealen Kulturgütern – stärker in den Mittelpunkt von öffentlicher Aufmerksamkeit, Kulturpolitik und der Museumswelt.“

Es könnte manchmal spannend wie in einem Krimi sein – wenn der Hintergrund nicht so real und makaber wäre:  Was wurde eigentlich aus dem ganz alltäglichen Besitz, den die im „Dritten Reich“ geflohenen oder verschleppten Juden, in Dülmen und andernorts, zurücklassen mussten? Der Immobilien- und Grundbesitz wurde ihnen ohnehin 1939 verboten. Wenn doch noch die Ausreise aus Deutschland gelang, war die Mitnahme von Hausrat oder persönlichen Gegenständen allerstrengsten Auflagen unterworfen und dann faktisch unmöglich. Wo aber blieb jener Hausrat, die Tisch- und Bettwäsche oder das Mobiliar, wenn die offizielle Ausreise bevorstand oder irgendwann die Deportation angekündigt und durchgeführt wurde? Das meiste zurückgelassene bewegliche jüdische Vermögen wurde wohl offiziell versteigert und konnte „legal“ erworben werden. Vermutlich wird es auch hier und da unkontrollierte Plünderungen und eigenmächtige Aneignungen gegeben haben. Mancherorts, etwa in Münster, wurden durch behördliche Maßnahmen offiziell die „Ausgebombten“ mit zurückgelassenen Hausratsgegenständen und Wäsche aus jüdischen Haushalten bedacht. Auch den „Lifts“ (Umzugscontainern) von Jenny und Johanna Pins erging es so: Sie standen verladebereit im Hafen von Münster, mussten aber dann bei der Ausreise am Jahresende 1940 zurückbleiben, wurden nach einiger Zeit von den Behörden geöffnet, der Inhalt an Bedürftige verteilt. (Diesem Umstand verdanken wir übrigens eine vollständige Auflistung des Hausrats im Hause Pins am Dülmener Kirchplatz, da Johanna nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Erinnerung eine Auflistung zusammenstellte, die für die Wiedergutmachungsansprüche geltend gemacht wurde.)

Und schließlich konnte vor dem „Verschwinden“ der jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen auch Folgendes vorkommen: dass nämlich die Betroffenen selbst in letzter Minute Nachbarn oder Freunden verschiedene Dinge überließen – sei es zur Aufbewahrung bis zur vermeintlichen Rückkehr, sei es als bleibendes Andenken oder als Dankeschön für erfahrene Unterstützung. Naturgemäß sind nach mehr als einem Dreivierteljahrhundert die damaligen Vorgänge kaum noch zu erhellen, wurden die betreffenden jüdischen Hinterlassenschaften irgendwann (wie ja auch andere Alltagsgegenstände aus jener Zeit) ausrangiert oder kamen sonst wie abhanden – zumal in einem Bombeninferno, wie es im Frühjahr 1945 Dülmen erlebte. Und doch konnte es sein, dass auch nach 1945 noch lange Zeit Häuser und Haushalte fortbestanden bzw. noch heute vereinzelt Zeitzeugen und Nachbarn leben, deren Erinnerungen und Erzählungen die Ereignisse von damals ganz unmittelbar erscheinen lassen.  

So etwa im Elternhaus von Antonia Müller geb. Roling (Jg. 1937), die im Haushalt ihrer Großmutter, der Dülmener Hebamme Antonia Wiese, aufwuchs – an der Coesfelder Straße (Ecke Plusch) in unmittelbarer Nachbarschaft zu den damals betagten Eheleuten Hugo und Sara Pins (beide Jg. 1870). Nachdem Tochter Charlotte (Jg. 1900) 1941 deportiert worden war, blieben Hugo und Sara als die letzten beiden Dülmener Juden bis zum Frühjahr 1942 in Dülmen zurück – verängstigt und von der Lage völlig überfordert. 

Und so war für die couragierte Hebamme Antonia Wiese schnell klar, welcher Belastung die betagten Eheleute und Nachbarn Pins ausgesetzt waren, unfähig geworden, die einfachsten Besorgungen zu erledigen. Vielleicht haben die beiden Senioren sich auch der Nachbarin anvertraut. Jedenfalls versorgte Antonia Wiese sie nun regelmäßig mit Lebensmittelpaketen. Diese wurden, um nicht den Argwohn der fanatisierten Nazis zu erwecken, im Schutz der Dunkelheit auf die andere Seite der Straßenkreuzung gebracht. Antonia Müller erinnert sich, dass dies immer ihr Onkel Hannes von der Tiberstraße zu erledigen hatte. Die damaligen Vorgänge wurden bereits an anderer Stelle eingehend beschrieben: Link zum PDF-MünsterLandMagazin ... 

Im April 1942 war es dann so weit; die schreckliche Ahnung wurde Gewissheit. Wieviel Vorlaufzeit zwischen Ankündigung und Vollzug der Deportation mag Hugo und Sara Pins eingeräumt worden sein? Wir wissen es nicht. „Kurz bevor sie weg mussten, haben die Eheleute Pins meiner Oma angeboten, ihr Schlafzimmer zu übernehmen“, erinnert sich Antonia Müller. Unmittelbar nach ihrer Deportation habe ihr Onkel Hannes die Schlafzimmermöbel abgebaut und zum Plusch Nr. 1 gebracht. „Es war dann viele Jahre von den Großeltern in Gebrauch“, so Antonia Müller, „auch ich habe dann in dem Doppelbett mitgeschlafen.“ Außerdem verschenkte Sara Pins in diesen letzten Tagen als bleibendes Andenken und als Dankeschön für all die Unterstützung, die sie durch Antonia Wiese erfahren hatte, eine Granatschmuck-Brosche. „Meine Oma hat die Brosche später auch getragen“, so erinnert sich Antonia Müller, „auf einem Foto kann man das noch erkennen.“ Daher hat für sie das etwas aus der Mode gekommene Schmuckstück vor allem einen eher ideellen Wert. Neben der Brosche ist auch noch eine von Sara Pins ihrer Nachbarin überlassene Blumenvase bis zum heutigen Tag erhalten, wohingegen die Schlafzimmermöbel nicht mehr existieren.