Christiane Daldrup über belastende Recherchen und wichtige Erinnerungsarbeit 

Lüdinghauser Straße 15 - das war einst die Adresse der Familie Davidson in Dülmen. Hier erinnern heute Stolpersteine an das jüdische Ehepaar Isidor und Berta sowie ihre Kinder. Heute Mittag um 12 Uhr wird hier einer der Stolpersteine ausgetauscht. Nämlich der von Vater Isidor, zu dessen Schicksal neue Erkenntnisse vorliegen (DZ berichtete). Darüber sowie über ihre Recherchen und Kontakte zu Nachkommen Dülmener Juden sprach DZ-Redakteurin Kristina Kerstan mit Christiane Daldrup.

Frau Daldrup, heute wird für Isidor Davidson ein neuer Stolperstein verlegt. Wie ist es dazu gekommen, dass der alte Stolperstein ausgetauscht werden muss?
Christiane Daldrup: Zur Zeit arbeite ich mit einem kleinen Team, bestehend aus Dr. Andrea Peine, Dr. Stefan Sudmann, Pfarrer Markus Trautmann und mir, an einer Publikation zu Dülmener NS-Opfern. Die Recherche zu den einzelnen Familien haben wir untereinander aufgeteilt. Frau Peine hat dabei unter anderem über die Familie Davidson recherchiert. Dabei hat sie herausgefunden, dass Isidor Davidson im Dezember 1939 mit dem Motorrad tödlich verunglückte. Bislang sind wir davon ausgegangen, und so steht es ja auch auf dem bisherigen Stolperstein, dass Isidor nach seiner Flucht nach Holland deportiert und ermordet wurde.

Wie ist der Kontakt zu dem Enkel Hans Davidson denn zustande gekommen?
Daldrup:  Auf einer niederländischen Internetseite sind wir auf einige Fotos der Familie Davidson gestoßen. Über die Bildnutzungsanfrage konnte ich Ende Februar über mehrere Ecken per Mail Kontakt zu Hans Davidson, einem Enkel von Isidor, aufnehmen, der mit seiner Frau in Kalifornien lebt. Zwolle ist der zweite Wohnsitz des Ehepaares. Dort verweilen sie nun seit Anfang April für einige Monate. Herr Davidson hat in einer seiner Mails ein Treffen in Dülmen vorgeschlagen.

Und wie ging es mit dem Rest der Familie Davidson nach der Flucht in die Niederlande weiter?
Daldrup:  Als das Leben für die Familie in Dülmen unerträglich und lebensbedrohlich wurde, zogen die Davidsons im November 1937 (Martha und Hermann bereits 1933) nach Zwolle, die Heimatstadt von Familienvater Isidor. Nach der Besetzung der Niederlande durch die deutsche Wehrmacht 1940 konnten die Geschwister Adolf und Martha untertauchen. Mutter Berta, ihre Söhne Hermann und Walter wurden in Westerbork interniert und von dort deportiert. Bertha wurde in Sobibor und Hermann und Walter in Auschwitz ermordet. Das ist nur eine kurze Zusammenfassung. Die gesamte Geschichte der Familie wird Hans Davidson in seinem Vortrag erzählen.

Nach Regina Bendix ist es nun das zweite Mal, dass Angaben auf Stolpersteine nach Recherchen korrigiert werden müssen, auch zum Schicksal von Louis Pins gab es bereits 2020 neue Erkenntnisse. Gibt es einen besonderen Grund, warum gerade jetzt immer wieder Neues auftaucht?
Daldrup: Nun ja, die Rechercheergebnisse sind nicht allein mein Verdienst. Wir arbeiten als Team. Viele Akten sind erst seit einigen Jahren für die Öffentlichkeit einsehbar. Hinzu kommt natürlich die weltweite Vernetzung durch das Internet. Die Archive, allen voran das Arolsen-Archiv, verfügen über umfangreiche Bestände, die online einsehbar sind. Manchmal können auch Kontakte zu Synagogengemeinden hilfreich sein. So konnte zum Beispiel sicher geklärt werden, dass David Dublon nicht wie bisher angenommen - beziehungsweise veröffentlicht - in Bonn-Endenich, sondern in Bonn-Castell beigesetzt wurde.

Sie stehen mit mehreren Nachkommen von jüdischen Familien aus Dülmen in Kontakt. Warum ist Ihnen das sowie Ihre Recherche zum Schicksal der Dülmener Juden so wichtig?
Daldrup: Zum einen sehe ich es als Bildungsarbeit, denn für die nachwachsenden Generationen ist die biografische Arbeit sehr wichtig und hilfreich, um eine Empathie zu den Opfern zu entwickeln und die Geschehnisse besser begreifen und einordnen zu können. Auf der anderen Seite lehrt uns die Geschichte auch, zumindest sollte sie das, wie zerbrechlich zwischenmenschliche Gefüge sein können, wenn wir nicht achtsam sind. Die Dülmener Juden waren nicht nur integriert, sondern sie waren Dülmener Bürger und Bürgerinnen, sie waren ein Teil dieser Stadt. Sie waren Nachbar, Vereinsmitglied, Kollege, Arbeitgeber, Freund usw. Die Erinnerungsarbeit weiter zu pflegen sind wir nicht nur den Opfern schuldig, sondern auch uns selbst. Wir können nur aus der Vergangenheit lernen, wenn wir sie vergegenwärtigen. Ich freue mich über den regen Mailaustausch unter anderem mit Mark Bendix, Ruth K. oder jetzt aktuell auch mit Hans Davidson. Gerade jetzt zu den Feiertagen war es schön, dass wir uns gegenseitig zu Ostern beziehungsweise zum Pessahfest Grüße ausgetauscht haben. Knapp vier Jahrhunderte lang wurde das Fest von Juden und Christen hier in Dülmen parallel gefeiert. Mir und dem Team ist aber wichtig, dass die Kontakte nicht nur mein „privates Ding“ bleiben, sondern, dass sie auch durch die weiterführenden Schulen gepflegt werden. Deswegen wurden jetzt auch alle Schulen angeschrieben und zu dem Vortrag eingeladen.

Belasten Ihre Recherchen zu den Schicksalen der Dülmener Juden Sie manchmal auch?
Daldrup:  Ja. Aus vielerlei Hinsicht. Ein Beispiel: Die Verschlagwortung im Arolsen-Archiv ist noch nicht ganz abgeschlossen. Daher habe ich mir die Deportationslisten nach und nach angesehen. Diese scheinbar nicht enden wollende Liste von Namen hat mich sehr betroffen gemacht. Auch, dass hinter diesen vielen erhalten gebliebenen Dokumenten ein funktionierender bürokratischer Apparat stand, ist eine erschreckende Erkenntnis. Belastend finde ich es aber auch, dass ich nicht selten auf Unverständnis stoße. Da hört man dann den Satz „Es muss doch irgendwann mal gut sein“. In der Tat finde ich diese Einstellung sehr verstörend. Gerade weil ich merke, wie belastend die Familiengeschichte für die Nachkommen der Dülmener Juden ist.

 

Bericht der Dülmener Zeitung, Bericht: Kristina Kersta; Fotos: Lef E. Rosentreter; Archiv Hans Davidson
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