Die Dülmener Viktor-Kirche war bis 1945 im östlichen und südlichen Bereich von einer relativ kleinteiligen Wohnbebauung umgeben. Zu ihr gehörte unweit der Sakristei ein Haus, in dem die jüdische Familie Pins lebte. 

Louis Pins (geb. 1874 in Dülmen) war seit seinem 18. Lebensjahr selbstständiger Viehhändler.

In erster Ehe war er mit Fanny Bendix (geb. 1878 in Billerbeck) verheiratet; im Jahre 1906 kam ihre gemeinsame Tochter Johanna zur Welt. Sie erlernt später die Herstellung von Kunstblumen bzw. das Fertigen von Gestecken.

Nachdem Fanny 1924 im Alter von 45 Jahren verstorben war, nahm sich Louis in zweiter Ehe Jenny Rosenstein (geb. 1878 in Neustadt/Rübenberge) zur Frau.  

Louis Pins war der Vorsteher der jüdischen Gemeinde Dülmens. Bis zum 9. November 1938 war die Dülmener jüdische Gemeinde auf 45 Personen (18 Männer, 22 Frauen, 5 Kinder) zusammengeschmolzen. An diesem Tag erlangten die von den Nationalsozialisten als „Reichskristallnacht“ inszenierten Ausschreitungen einen neuen Höhepunkt an Grausamkeit. In der Pogromnacht am 9./10. November 1938 wurde auch die Familie Pins bedrängt und die Wohnung demoliert. 

„Die Reichspogromnacht war für die Familie Pins voller Schrecken. Um Mitternacht schlugen Unbekannte – wohl SA-Leute in Zivil – die Scheiben ihres Hauses ein und versuchten, die Wohnung in Brand zu setzen. Sie wurden vom allgemeinen Feueralarm zunächst gestört. Gegen 3.00 Uhr morgens gelangten zwei Dülmener Nationalsozialisten ins Haus und zertrümmerten die Möbel. … Johanna klopfte kurz darauf bei den Nachbarn an, vielleicht um ein Bündel mit Wertsachen in Sicherheit zu bringen, aber die Angst hielt deren Türen verschlossen.“ (Ulrike Lendermann, Dülmener Heimatblätter, Sonderausgabe 2011, S. 224) 

„Nachdem sie das Mobiliar zertrümmert hatten, brachen sie die Tür zu einem Zimmer im Obergeschoss auf, wohin sich der Hausherr mit Frau und Tochter geflüchtet hatte. Sie zerrten den notdürftig bekleideten Louis Pins auf den Kirchplatz und trieben ihn mit Faustschlägen und Fußtritten durch die Rathausgasse zum Polizeigefängnis hinter dem Amtsgericht. Dorthin wurden in der Pogromnacht 16 jüdische Männer verschleppt. Zwei bis drei Wochen wurden sie dort festgehalten und schwer misshandelt.“ (Hans-Walter Schmuhl, Geschichte der Stadt Dülmen, 2011, S. 314)

Juden durften nicht länger Grundstückseigentümer sein. Noch Ende 1938 verkaufte Louis Pins sein Weideland an der Ecke Hülstener Straße/Gausepatt (heute Regenrückhaltebecken) an die Stadt Dülmen. Sein Haus und Grundstück am Kirchplatz erwarb 1939 die Stadt Dülmen, die hier ein „Heimathaus“ einrichten und eine „Volksbücherei“ aufbauen wollte. Kriegsbedingt kam es dazu nicht mehr; dann legte die Bombardierung Dülmens 1945 auch das Haus Pins in Schutt und Asche. 1950 wurde auf dem Kellergewölbe für einige Jahre eine Baracke für die Pfarrbücherei aufgestellt. 

Die Familie Pins entschied sich für eine baldige Ausreise aus Deutschland und Übersiedlung nach Uruguay. Seit Anfang 1939 begab sich Louis etliche Male nach Hamburg, um die notwendigen Kontakte zu knüpfen und die Auswanderung vorzubereiten. 

Louis Pins machte Bekanntschaft mit einem deutschen Mitarbeiter des uruguayischen Generalkonsulats. Dieser nutzte die Panik der deutschen Juden aus und ließ es sich teuer bezahlen, ihre Auswanderungsanträge bzw. Einwanderungspläne zu bevorzugen und zu beschleunigen. Ferner verhalf er gegen hohe Bestechung, Devisen außer Landes zu bringen bzw. für den Neubeginn in Uruguay dort ein Startkapital zu deponieren.

Louis Pins stellte eine günstige Veräußerung von Hypothekenbriefen weit unter Wert in Aussicht, um die illegalen Dienste des Konsulatsbeamten zu vergüten. Dieser suchte die Familie Pins sogar einmal in Dülmen auf, um sich von der Existenz und dem Wert dieser Papiere zu überzeugen.

Irgendwann wurde die Hamburger Zollfahndung auf dessen korrupte Machenschaften aufmerksam und verhaftete ihn. Durch einen unglücklichen Zufall wurden die Fahnder auch auf Louis Pins aufmerksam, der sich just zum Zeitpunkt einer Hausdurchsuchung in der Wohnung des Verhafteten aufhielt. Er durfte jedoch noch einmal nach Dülmen zurückkehren. 

Anfang Juni kamen die Hamburger Zollfahnder nach Dülmen und verhafteten Louis Pins. Zugleich sollte er als Belastungszeugen in dem relativ umfangreichen Strafverfahren wegen „Devisenschmuggels“ fungieren. Louis Pins verstarb am 12. Juni 1939 im Gestapo-Gefängnis Fuhlsbüttel, nach amtlicher Auskunft durch Suizid, und wurde auf dem Jüdischen Friedhof Hamburg-Ohlsdorf begraben. 

Ende Juni 1939 zogen Jenny und Johanna Pins bei den Geschwistern Wolff an der Borkener Straße Nr. 17 ein. Eine für den 12. Mai 1940 geplante Atlantiküberquerung von Amsterdam aus nach Montevideo wurde durch die zwei Tage zuvor erfolgte deutsche Besetzung der Niederlande verhindert. Dann ergab sich eine allerletzte Chance: Am 24. Dezember 1940 meldeten sich Jenny und Johanna Pins in Dülmen ab, um die Ausreise nach Südame­rika anzutreten. Ein offizielles Entkommen aus Nazi-Deutschland war nur noch möglich, in­dem sich die Auswanderer organisierten Gruppentransporten anschlossen, die per Bahn bzw. in verplombten Waggons in Berlin starteten. In Paris er­folgte ein Umsteigen, und die Reise ging weiter nach Spanien.  

Ein Blick in uruguayische Einwandererlisten zeigt: Jenny und Johanna Pins gingen in der nordspanischen Hafenstadt Bilbao an Bord des spanischen Passagierschiffs „Cabo de Buena Esperanza“ („Kap der guten Hoffnung“), um die Überfahrt über den Atlantik anzutreten. 

Am 8. Februar 1941 kamen sie in Montevideo an, der Hauptstadt von Uruguay. Dem Schrecken fast in letzter Minute entkommen, versuchten sie, hier ein neues Leben zu beginnen. Jenny Pins verstarb 1946. Johanna heiratete einen ebenfalls deutschstämmigen Juden. Als Hanna Seelig wohnte sie in den nächsten Jahrzehnten in der „Calle durazno“ in Montevideo.